Den Zug aus dem Bahnhof verjagt

Zum Zug! Immer im letzten Abdruck! Heute habe ich wieder mit einem hektischen Spurt zum Bahnsteig den Zug aus dem Bahnhof verjagt.

Da stehe ich keuchend und mit hochrotem Kopf und denke: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Wirklich? Aus dem Ärger schält sich der Gedanke heraus, dass mich mein Zuspätkommen an diesem Tag belohnt: mit einer ganzen Stunde Zeit, die nicht verplant ist.

Als mir das bewusst wird, pendelt sich der Puls wieder auf den Normalpegel ein. Wenn schon, denn schon. Diese Stunde Zeit nehme ich mir. Ich trinke meinen Kaffee und schaue den Leuten beim Reisen zu. Danach ein Abstecher in die Bahnhofsbuchhandlung. Ich lese mich in einer Neuerscheinung fest. Fast zu lange. Wie schnell ich die Zeit vergessen kann!

Ganz in Ruhe bewege ich mich in Richtung Bahnsteig, sozusagen auf Zehenspitzen. Ich weiß ja nun: Züge sind schreckhafte und flüchtige Wesen.

„Alles hat seine Zeit“ (Kohelet 3,1), sagen uns die Frommen der Bibel. Mitten in der Hektik zur Ruhe finden und einfach eine Stunde aussteigen aus dem Laufrad: Zeit haben. Geschenkte Zeit.

Wie viel schleppen wir mit uns herum aus dem Bedürfnis heraus, für jeden Fall ausgerüstet zu sein! Und weist nicht der äußere Ballast auf den inneren hin? Wäre das nicht eine Vorstellung zum Atemholen: So reisen, dass wir immer genügend Platz und Bewegungsspielraum haben. Also mit leichtem Gepäck: Nie mehr als eine Tagesration Glaube, Hoffnung und Liebe im Rucksack…

Verfasser: Privatdozentin Dr. Hildegard König, Techn. Universität Dresden